Der Sorge Raum geben: Wie wir der Krise begegnen können

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Heute schreibt Ana Honacker für dich in der Rubrik SPIRIT BONES:

„Alles gut?“ – immer, wenn ich diese Frage stelle, zucke ich innerlich zusammen. Diese Floskel, die seit einiger Zeit in aller Munde ist und die auch ich mir zu eigen gemacht habe, hat es in sich. Schon „vor Corona“ konnte ja bei Weitem nicht die Rede davon sein, dass „alles gut“ ist. In den letzten Monaten ist die Welt aber ganz offensichtlich und für die meisten unmittelbar spürbar aus den Fugen geraten. Es ist also ganz und gar nicht „alles gut“.

Vielmehr hat der Dauer-Krisenmodus, in dem wir uns nach und nach mehr oder weniger komfortabel eingerichtet haben, Spuren hinterlassen. Anders als Länder wie Italien, Spanien oder die USA sind wir hierzulande, gemessen an den direkten Opfern von Covid-19, bislang glimpflich davongekommen. Und doch hat sich die Pandemie in uns eingeschrieben: Gefühle der Angst, Irritation, Unsicherheit, Sorge – mal konkret, mal diffus, mal akut, mal eher als Hintergrundrauschen.

Zwar ist das öffentliche Leben über die Sommermonate nach und nach wieder erwacht und zu einer Beinahe-Normalität zurückgekehrt. An manch einem sonnigen Nachmittag hätte man meinen können, alles sei nur ein böser Traum gewesen. Doch jetzt, mit den rasch kürzer werdenden Tagen, und den, wie prognostiziert, erneut nach oben schnellenden Zahlen, holt uns die „zweite Welle“ wieder auf den Boden der Tatsachen. Ob wir das wahrhaben wollen oder nicht: Wir leben wirklich inmitten eines globalen Seuchengeschehens. Das zu leugnen ist eine zwar psychologisch nachvollziehbare Reaktion, als Krisenbewältigungsstrategie taugt dieses wishful thinking jedoch nicht, im Gegenteil. „In diesen Zeiten“ (noch so eine Floskel, die sich schnell eingebürgert hat – vielleicht weil sie so schön verschweigt, was sie bezeichnet) ist es also eine der größten Herausforderungen, der alles andere als guten Wirklichkeit weder auszuweichen noch an ihr zu verzweifeln.

Dazu gehört auch, der Krise zunächst einmal als Krise zu begegnen und somit der Versuchung zu widerstehen, sie direkt in eine Chance umwerten zu wollen. Es mag sich erweisen, dass die Pandemie auch Anlass für persönliche wie gesellschaftliche Neuorientierungen gewesen sein wird. Doch zuallererst haben wir es mit einer Situation zu tun, die weniger verheißungsvoll denn bedrohlich ist, anstrengend und überfordernd statt zukunftsfroh. Diesen unangenehmen Gefühlen Raum zu geben, sie wahrzunehmen und anzuerkennen, ist eine Voraussetzung dafür, dass sie uns nicht überwältigen oder steuern.

Doch bevor sich eine nicht-resignative Gelassenheit einstellen kann, die weder gegen das Unabänderliche an- noch vor ihm wegrennt, und zugleich da aktiv wird, wo Veränderungen möglich sind, ist eine Bestandsaufnahme des eigenen Zustands zu machen. Auf der Flucht aber reflektiert es sich schlecht, es braucht also auch seelische Schutzräume: Rückzugsorte, die dem Corona-Dauerfeuer entzogen sind. Das kann der Lieblingssessel mit einem schönen Buch sein, der Gang in die Natur, die Yoga-Routine – wo es gelingt, Inseln der Selbstsorge und auch der Selbstwirksamkeit zu schaffen (ich erfahre, dass Corona nicht alles bestimmt, dass ich noch immer Dinge, und noch so kleine, in der Hand habe), eröffnen sich Spielräume der Reflexion und schließlich des Verhaltens zu den Umständen. Krisenfestigkeit bedeutet ja nicht, der Situation ihren prekären und beängstigenden Charakter abzusprechen, sondern mit ihm umgehen zu lernen.

Dafür gibt es kein Patentrezept, denn wir haben es mit einer Ausnahmesituation zu tun, in der unsere bisherigen Strategien nicht unbedingt greifen, die in jeder Hinsicht neu ist. „Nicht klarzukommen“, überfordert zu sein, Angst zu haben ist also kein Zeichen von Schwäche oder mangelhafter Organisation, sondern gewissermaßen von Realismus: Wer jetzt meint, Bescheid zu wissen, hat den Charakter der Krise nicht erkannt. Die Orientierung muss erst neu gewonnen werden, und dazu ist nicht zuletzt auch Geduld notwendig, mit sich selbst wie mit anderen.

Die Wahrnehmung der eigenen Angst zuzulassen, ja gewissermaßen sogar zu kultivieren, etwa in Achtsamkeitspraktiken, hat zudem eine Dimension, die über die persönliche Psychohygiene hinausgeht. Der Philosoph Hans Jonas hat auf die Rolle einer „passenden Furcht“ für verantwortungsvolles Handeln verwiesen: Ich muss mich fragen, wie das, was ich jetzt tue, andere in Zukunft beeinflussen wird, welchen Schaden es womöglich anrichtet. Eine solche Sorge ist die emotionale Grundierung und Motivation für Vor- und Rücksicht gegenüber anderen – ein Verhalten, das für den weiteren Verlauf der Pandemie entscheidend sein wird.

Ohne Achtsamkeit und Empathie wird die Krise nicht zu bewältigen sein. Dazu ist immer wieder innezuhalten und zu fragen: Wie geht es mir eigentlich? Was nehme ich bei den Menschen in meinem Umfeld wahr? Mehr noch als im Frühjahr und Sommer sind wir zurückgeworfen auf uns selbst, die Gelegenheiten zur Ablenkung, Überspielung werden weniger. Je früher wir die dunklen Ecken in unseren Gemütern erkunden, umso weniger werden wir vor ihnen davonlaufen müssen.

Es mag dann gelingen, sich wieder im Möglichkeitsdenken zu üben: Nicht auf das zu schauen, was nicht geht, sondern auf das, was gelingt und gut ist. Auf das, was möglich sein könnte, wenn wir uns dafür engagieren. Eine solche Haltung ist kein naiver Optimismus, sondern hat das Potential, den Jetzt-Zustand aufzusprengen. Sie zielt auf die Überschreitung. Damit wird sie der Krise als Krise im ursprünglichen Wortsinne gerecht: als kritischem Moment, als Moment der Entscheidung, und eben nicht des Verharrens und Einrichtens. Nein, es ist nicht „alles gut“. Dabei muss man aber nicht stehen bleiben. Konzentrieren wir uns darauf, das Gute im Rahmen des Möglichen wahrzunehmen und zu verwirklichen.

 

Zum Weiterlesen:

  • Paolo Giordano: In Zeiten der Ansteckung, Hamburg 2020.
  • Ana Honnacker: Das große Leugnen. Skepsis und Gewissheitssuche in Zeiten der Pandemie (April 2020).
  • Nikil Mukerji/Adriano Mannino: Covid-19: Was in der Krise zählt, Ditzingen 2020
  • Katharina Nocun / Pia Lamberty: Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen. Quadriga (2020).

 

Die Autorin: Ana Honnacker ist promovierte Philosophin und lehrt u.a. an der Universität Hildesheim. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit den Herausforderungen moderner Gesellschaften: Wie können wir populistischen und fundamentalistischen Bewegungen begegnen? Wie gelingt gesellschaftliche Transformation, nicht zuletzt mit Blick auf die Klimakrise? Philosophie versteht sie dabei nicht nur als Medium der kritischen Reflexion, sondern zugleich der praktischen Orientierung. In ihren Vorträgen, Workshops oder auch philosophischen Cafés lädt sie daher zum Mit-Philosophieren ein.

 

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