The Long Way Home – Mit Bewegung zu einer neuen Haltung finden (und was das mit Lebenskunst zu tun hat)

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Heute schreiben Dr. Ana Honnacker und Duncan Lee für dich in der Rubrik MOVING BONES:

von Dr. Ana Honnacker und Duncan Lee

Teil I

„Free your mind and the rest will follow“ – und umgekehrt

Als wir begannen, uns über die Idee eines gemeinsamen Projekts auszutauschen, waren wir uns von Anfang an darüber einig, dass es keine vorgefertigten Lösungen für die Probleme des Lebens geben kann. Nicht nur das eigentliche Problem, sondern schon, was überhaupt als Problem empfunden wird, ist eine höchst individuelle Angelegenheit. Was „One-for-all“-Ratgeber übersehen, ist, dass alles, was wir bewältigen müssen, egal ob Bandscheibenvorfall oder Ehekrise, eine eigene Geschichte hat, in die es eingebettet ist, und ohne die es nicht zu verstehen ist. Jeder Versuch, diesem Problem mit dogmatisch starren Lösungsansätzen zu begegnen, wird höchstwahrscheinlich scheitern.

Der Maßstab eines gelungenen Lebens liegt daher auch nicht in abstrakten Idealen oder dem Erreichen eines (von Religionen, Philosophien oder auch der Gesellschaft) vorgefertigten Sinns. Lebenskunst hat unserem Verständnis nach ein bescheideneres, durchaus therapeutisches Ziel: Klarkommen zu können.

Dabei geht es dann nicht mehr so sehr darum, das „wahre Wesen“ der Welt zu erkennen und einer alleinseligmachenden Wahrheit auf die Spur zu kommen. Vielmehr will diese Lebenskunst darin unterstützen, sich einen Reim auf die Welt machen zu können, sich in ihr orientieren zu können: „Sympathy with the universe“, wie es der amerikanische Philosoph und Psychologie William James nennt. Das heißt zum einen, eine ganz grundsätzliche (wenn auch nie vollkommene) Stimmigkeit unserer Überzeugungen mit unseren Erfahrungen anzustreben. Das, woran wir glauben und wonach wir unser Handeln ausrichten, muss sich im Leben bewähren. Orientierung benötigt Geländekenntnis, ein Mindestmaß an Vertrautheit mit dem Terrain, auf dem man sich bewegt. In der Welt zu Hause zu sein, ist dabei ein offener, vielleicht nie gänzlich abzuschließender Prozess. Ein allzu oft vernachlässigter Aspekt dieser Lebenskunst ist es, auch im eigenen Körper zu Hause zu sein. Lebenskunst umfasst daher ganz wesentlich auch, zu einer – inneren wie äußeren – Haltung zu finden. Dazu wollen wir aus unseren spezifischen Perspektiven (Philosophie und Körperarbeit) heraus, vor allem aber aus den Erfahrungen der gemeinsamen Arbeit, Anregungen geben.

Insofern sind die Impulse, die wir im Folgenden anbieten wollen, nicht als starre Vorgaben zu verstehen, sondern als Einladung, sich auf bestimmte Gedanken, Übungen, oder Bilder einzulassen und sie experimentell zu erproben. Als Leitlinie dafür bietet es sich an, zu fragen: Was macht es mit mir? Welche Wirkungen zeigen sich, was ist anders als vorher? Welche Bilder lösen Resonanz aus, welche sprechen mich eher nicht an? Daher sind Selbstbeobachtung und Reflexion wichtige begleitende Werkzeuge, ja Bestandteile einer philosophischen Lebenskunst.

Die Praxis des Innehaltens, der Unterbrechung für einen Moment des Nachspürens, etwa bei einem kleinen Spaziergang nach einer Übungseinheit, fungiert dabei als Barometer oder Kompass. Denn: Expert*innen des eigenen Lebens sind immer diejenigen, die es leben. Das gilt auch für den Umgang mit dem eigenen Körper, dessen spezifische Grundausstattung (wie z.B. die individuelle Formung der Wirbelsäule) und tatsächlicher Zustand, die Tagesform, bestimmend dafür sind, in welcher Weise wir uns bewegen (können).

 

Acht Normalformen der Wirbelsäule
Acht Normalformen der Wirbelsäule

 

Diese reflektierende Selbstbeobachtung ist dabei nicht zwingend eine solitäre Angelegenheit. Vielmehr profitiert sie sogar, wenn sie einen dialogischen Resonanzraum bekommt: Im Austausch mit anderen können die eigenen Erfahrungen und Eindrücke abgestimmt werden, um einen guten eigenen Weg zu finden. Wir als Trainer oder Beraterin können diese Suche mit unseren Kompetenzen begleiten, gewissermaßen als „pathfinder“, als Fährtenleser fungieren. Unsere Rolle besteht also nicht in erster Linie darin, Antworten zu geben, sondern aufmerksam für die je mitgebrachten Anliegen zu sein, gezielt Feedback zu geben, Spuren ausfindig zu machen, alternative Aussichtspunkte anzubieten.

Und hier stößt eine Anleitung zur Lebenskunst, zumal in Text- und damit unweigerlich Theorieform, in zweifacher Hinsicht an ihre Grenzen: Zum einen, weil es die praktischen Vollzüge sind, die etwas in Bewegung bringen. Zum anderen, weil sie eigentlich Gespräch, Interaktion werden müsste. Erst im kommunikativen Raum, der dabei entsteht, können gemeinsam Fährten entdeckt und ausprobiert werden, die durch eine reine „Anwendung“ (einer Methode, eines Systems) womöglich verborgen bleiben.

Wir wollen hier nichtsdestotrotz zumindest eine erste Idee davon geben, wie der Weg zur Beheimatung im eigenen Körper aussehen könnte. Wir orientieren uns dabei am Aufbau einer Bewegungseinheit und vertiefen jeweils die Gedanken, die hinter den einzelnen Bausteinen stehen.

 

„Set the mood“

Überhaupt anfangen zu können, ist schwer. Am Beginn steht daher die Aufgabe, die „Arbeitsfähigkeit“ herzustellen, die äußeren und inneren Umgebungsbedingungen dafür zu schaffen, in die Übungen zu gehen, also ein passendes Ambiente zu kreieren. Dafür gibt es kein Rezept, denn jeder Tag ist anders. Vielleicht gelingt es sogar manchmal gar nicht. Ein paar Übungen haben sich aber bewährt und können hilfreich sein, um zur Ruhe zu kommen und bei uns selbst anzukommen.

Eine gute Möglichkeit ist es zum Beispiel, sich auf den eigenen Atem zu konzentrieren: Eine solche Zentrierung erlaubt uns, wahrzunehmen, wie es uns überhaupt geht. Sind wir angespannt, hellwach, erschöpft? Haben wir (zuviel) Energie? Dadurch können wir an einen Punkt gelangen, von dem aus wir starten können und zu dem wir immer wieder zurückkehren im Laufe der Einheit: Unser Anfangszustand wird zum Referenzpunkt der Reflexion, zur „Messlatte“ der Veränderung.

 

Kurz innehalten, durchatmen – Weiter zu Teil II

 

Zu den Autor*innen:

Ana Honnacker ist promovierte Philosophin und lehrt u.a. an der Universität Hildesheim. Momentan ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Philosophie München. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit den Herausforderungen moderner Gesellschaften: Wie können wir populistischen und fundamentalistischen Bewegungen begegnen? Wie gelingt gesellschaftliche Transformation, nicht zuletzt mit Blick auf die Klimakrise? Philosophie versteht sie dabei nicht nur als Medium der kritischen Reflexion, sondern zugleich der praktischen Orientierung. In ihren Vorträgen, Workshops oder auch philosophischen Cafés lädt sie daher zum Mit-Philosophieren ein. Du erreichst sie unter post@ana-honnacker.de.

 

Duncan Lee ist Mitbegründer und Mitgesellschafter von MOVING BONES. Er ist ehemaliger Bühnentänzer und Choreograf sowie einer der wenigen Pre Trainer / Ausbilder in Deutschland für GYROTONIC®- und GYROKINESIS®. Du erreichst ihn unter duncan@movingbones.de.

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