Heute schreiben Dr. Ana Honnacker und Duncan Lee für dich in der Rubrik MOVING BONES:
von Dr. Ana Honnacker und Duncan Lee
Teil II
Beweg-Gründe wahrnehmen: Impulse aufnehmen und setzen
Schon bei der Einstimmung ist unsere Aufmerksamkeit vielleicht an etwas „hängengeblieben“: an einer bestimmten Körperstelle, die schmerzt oder verspannt ist, einem Gedanken, der sich in den Vordergrund drängt, einem Gefühl, das uns nicht loslässt. Unser Fokus liegt dann ganz automatisch auf diesen Phänomenen. Sie wahrzunehmen, gehört dazu – auch und gerade dann, wenn sie als störend empfunden werden. Sie sind Hinweise auf unsere „Baustellen“ und Unstimmigkeiten. Zweifel oder auch nur diffuses Unbehagen, das „etwas nicht stimmt“, können anzeigen, dass wir unsere Überzeugungen und unser Handeln befragen sollten, weil sie nicht in Einklang miteinander stehen, sich nicht stimmig anfühlen. Und auch unsere Körperdynamik kann aus dem reibungslosen Zusammenspiel geraten und dadurch etwa Schmerz auslösen. Bewusst die Aufmerksamkeit auf diese Dissonanzen zu lenken, sie gewissermaßen zu erforschen, ermöglicht, sich zu ihnen zu verhalten. Das kann bedeuten, sie zum Anlass für eine Neuausrichtung zu nehmen und zu einer anderen (Körper-)Haltung zu kommen.
Eine solche Veränderung braucht Zeit, da sich die alten Muster oft festgefahren haben. Das gilt fürs Denken ebenso wie für unseren Körper und seine Bewegungsabläufe. Wie uns eine „Problemtrance“ lähmen und daran hindern kann, Lösungen zu finden, gibt es auch Bewegungsblockaden, die uns im wahrsten Sinne des Wortes fixieren: Nicht nur, weil sie unsere physische Dynamik einschränken, sondern auch, weil sie unsere Aufmerksamkeit binden. Sich davon zu lösen, bedeutet keine einfache Ablenkung, sondern den Rückgewinn von Freiräumen, die Dynamisierung unserer bewussten Aufmerksamkeit und damit die Möglichkeit, anders und anderes wahrzunehmen.
Nach und nach kommen immer weitere Details ins Bewusstsein, die vorher „verdeckt“ waren. Diese Sensibilisierung für Feinheiten beschert oft überraschende Aha-Momente: Mit einem Mal fühlt sich eine Übung, die man schon monatelang macht, anders an – bis hin zu der Erfahrung, dass man sie „neu lernen“ muss. Mit der Überwindung des Gewohnten kommt nicht selten das Gefühl, Ballast über Bord geworfen zu haben, eine überflüssige Schicht abgestreift zu haben. Im – nicht selten erstmal irritierenden – Verlernt-Haben liegt die Möglichkeit auf eine Wiederaneignung mit einer neuen, ungeahnten Leichtigkeit und Stimmigkeit.
Die Erstarrung überhaupt erst zu lösen, wieder in die Beweglichkeit zu kommen, ist daher wichtiger, als „alles richtig“ zu machen, indem wir meinen, einer vorgefassten Form entsprechen zu müssen. Wie also kann es gelingen, feinfühlig für die eigenen Impulse zu werden, Blockaden zu erkennen und loszulassen, Raum zu schaffen für entspanntes Bewegen?
Im Kern lautet die Grundidee, sich „einfach zu bewegen“, ohne besondere Anspannung oder Kraftaufwendung. Das klingt leichter, als es ist, weil wir in der Regel Dynamik, Energie und Stärke mit (muskulärer) Anstrengung in Verbindung bringen. Dadurch geraten wir rasch in Bewegungen, die alles andere als entspannt, sondern sogar verkrampft sind und wiederum blockierend wirken. Um den (scheinbaren) Widerspruch von Spannung und Entspanntheit, Stärke und Leichtigkeit aufzulösen, hilft es, sich Formen und Bewegungsmuster von der Natur abzuschauen: das Spiralprinzip (Schneckenhäuschen, Strudel) etwa, oder Wellenbewegungen. Gelingt es uns, in eine Dynamik des Fließens bzw. Fließenlassens zu kommen, gehen Aktion und Reaktion zunehmend ineinander über. Wir lassen uns fast schon mehr bewegen als dass wir unsere Körper bewegen. Der Impuls entsteht.
Unterstützend kann es sein, eine neue Position einnehmen und wahrzunehmen, was daraus entsteht. Die Reaktion des Körpers auf die Veränderung kann einen Hinweis darauf geben, welche Richtung wir verfolgen sollen. Wenn wir solche Impulse lernen wahrzunehmen und ihnen bewusst Aufmerksamkeit zu schenken, können wir zunehmend auf unseren Körper und der Neuausrichtung, die daraus entsteht, vertrauen.
Sich selbst tragen / sich tragen lassen
Bei dieser Neuausrichtung „ordnen“ sich die Körpereinheiten und Bewegungsmuster neu und setzen sich anders als zuvor ins Verhältnis. Das kann mit dem Gefühl einhergehen, wie eine Gliederpuppe in alle Einzelteile zerlegt zu sein und sich neu zusammensetzen zu müssen, sie wieder zu verorten und zu koordinieren. Dieses „Puzzle“ unserer Körperdynamik hat nicht zum Ziel, am Ende ein bestimmtes Bild zu zeigen oder den Trainer/die Trainerin zu imitieren. Vielmehr geht es darum, zu einer eigenen Haltung zu finden: einem austarierten, aber nicht statischen Zustand, der sich durch Stimmigkeit auszeichnet.
Im Zuge dieses fine tunings entsteht eine körperliche Stabilität und Tragfähigkeit, die durch Kontrast und Zugspannung erreicht wird und auf dem (der Architektur entlehnten) Prinzip der tensegrity beruht: Wenn alle Elemente eines Systems zusammenstimmen, bilden sie eine ausgeglichene und dynamische Einheit, die sich selbst trägt und dabei plastisch, also veränderbar, bleibt. Eine Haltung einzunehmen ist daher nicht mit Starrheit zu verwechseln (und das gilt im doppelten Sinne, für die äußere wie innere Haltung). Es bedeutet jedoch, zu wissen, wo man steht – und wie.
Coming full circle: Das (Wieder)-Ankommen am Anfang
Zum Abschluss einer Bewegungseinheit wird gewissermaßen der Kreis geschlossen und wieder der Anfangspunkt aufgesucht. Wenn wir am Ende noch einmal ruhig werden und mit einer Reflexion aus der Einheit aussteigen, können wir den Veränderungen nachfühlen, die sich ergeben haben. Wir kommen wieder bei uns an – aber nicht ganz als dieselben. Während der End-Entspannung – etwa einer kurzen, atemgeleiteten Übung – kommt der veränderte Zustand in den Blick und kann so bewusst erfahren und auch angeeignet werden: Das neue Körpergefühl darf nachklingen, auch über das Setting der Übung hinaus. Es soll mitgenommen und verstetigt werden, eben zur Haltung werden.
Unsere Haltung ist jedoch nicht einmal gefunden und dann für immer gesetzt. Sie dient als Fundament, als Basis für stetige Weiterentwicklung. Damit bekommt die ganze Unternehmung der Beheimatung eine Prozesshaftigkeit und damit Unfertigkeit, die es auch auszuhalten gilt. Im besten Falle kann sie sogar genossen werden und Freude machen. Dabei kann helfen, sich klar zu machen, dass endgültig anzukommen hieße, einen gegenwärtigen Zustand zu fixieren, die Entwicklung einzustellen, also zu stagnieren. Veränderung und (zumindest potentielles) Wachstum sind in der Natur Kennzeichen alles Lebendigen – lebendig zu sein bedeutet, diese Wandlungsprozesse zu durchlaufen. Und wir können sie sogar gestalten.
Dazu gehört, Geduld mit uns selbst aufbringen zu können und die eigenen Grenzen zu kennen. Es ist wichtig, unsere comfort zone nicht mit Gewalt zu überschreiten, sondern in Kenntnis ihrer Grenzen an ihrer Erweiterung zu arbeiten. Die Ausweitung ist Resultat, aber nicht Ziel der Arbeit. Sie kann nicht erzwungen werden, sondern stellt sich ein.
Gefühle, Gedanken, Erfahrungen setzen sich in den tiefsten Schichten unseres Körpers fest, gleichsam als leibliches Gedächtnis. Sie „bewohnen“ uns, im extremsten Fall als Trauma. Gelöst werden können sie nur mit Hilfe von Aufmerksamkeit, Übung, Wiederholung – und das heißt auch Zeit und damit Geduld. Zuallererst müssen sie wahrgenommen werden. Nicht mit Zwang, sondern mit Behutsamkeit, Schicht für Schicht, und dann, wenn es an der Zeit dafür ist.
Indem wir ein bewusstes Körpergefühl ausbilden, schärfen wir den Sinn für die eigenen Bedürfnisse und lernen Wege, diese zu bedienen. Einen eigenen Kompass zu besitzen, selbstständig zu wissen, wie man klarkommt, verleiht einen ungeheuren Grad an Unabhängigkeit.
Je mehr wir uns bewegen, umso beweglicher werden wir. Unsere innere, geistige Offenheit ist die Voraussetzung für diesen Zugewinn an Beweglichkeit – und verstärkt sich durch die Aufmerksamkeit darauf zugleich selbst: Die Bewegung bewegt uns.
Zu den Autor*innen:
Ana Honnacker ist promovierte Philosophin und lehrt u.a. an der Universität Hildesheim. Momentan ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Philosophie München. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit den Herausforderungen moderner Gesellschaften: Wie können wir populistischen und fundamentalistischen Bewegungen begegnen? Wie gelingt gesellschaftliche Transformation, nicht zuletzt mit Blick auf die Klimakrise? Philosophie versteht sie dabei nicht nur als Medium der kritischen Reflexion, sondern zugleich der praktischen Orientierung. In ihren Vorträgen, Workshops oder auch philosophischen Cafés lädt sie daher zum Mit-Philosophieren ein. Du erreichst sie unter post@ana-honnacker.de.
Duncan Lee ist Mitbegründer und Mitgesellschafter von MOVING BONES. Er ist ehemaliger Bühnentänzer und Choreograf sowie einer der wenigen Pre Trainer / Ausbilder in Deutschland für GYROTONIC®- und GYROKINESIS®. Du erreichst ihn unter duncan@movingbones.de.